Industriegeschichte

Thüringen: Fabrik und Kosthaus

Industrialisierung im 19. Jahrhundert

In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts begann im Walgau ein Industrialisierungsboom: Bis 1850 entstanden hier 16 Betriebe, das waren 22% aller Vorarlberger Industriebetriebe. Die Standorte lagen in Frastanz, Nenzing, Gais, Thüringen und Bürs, ferner in Satteins und Schlins. Neben dem Rheintal war der Walgau das wichtigste Vorarlberger Industriezentrum: Bis 1850 waren dies 50% aller mechanischen Webereien, 26% mechanische Spinnereien und 23% Großfärbereien.

Die Industrie wies eine Monostruktur auf und betrieb Textilerzeugung und –bearbeitung. Die Voraussetzungen dafür waren sehr günstig: Es gab genügend Wasserkraft und Arbeitskräfte (Kinder, Jugendliche, Frauen), eine traditionelle Praxis in der bäuerlichen Heimspinnerei- und Weberei, außerdem einheimische Kapitalreserven aus Handel und Textilverlag (Ganahl, Getzner). Die Unternehmer kamen aus wenigen Familien: Aus Vorarlberg stammten Ganahl und Getzner. Aus dem Ausland kamen Elmer, Schlittler und Escher aus der Schweiz, Kennedy und Douglass aus Großbritannien. Die Arbeitnehmer rekrutierten sich aus der bäuerlichen Unterschicht der Fabriksumgebung - bis 1848 auch aus der Schweiz. Ab 1870 strömten aus dem italienischsprachigen Südtirol „Welschtiroler“ in die Fabriksorte (Lit.: Burmeister A. Getzner B. Johler. Mittersteiner. Sutterlütti. Weitensfelder. Welte A C).

Die ersten Industriebetriebe im Walgau

Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: die „Gründerjahre“M

Mechanische Webereien

  • 1834 Getzner Frastanz
  • 1834 Escher-Kennedy-Douglass Thüringen (Douglass besaß 1839 eine der ersten Turbinen in der Monarchie
    und 1840 die erste Dampfmaschine in Vorarlberg.)
  • 1835 Ganahl Frastanz

Bleichen

  • 1824 Getzner Frastanz
  • 1836 Ganahl Frastanz

Druckereien

  • 1836 Elmer Satteins
  • 1843 Ganahl Frastanz

Mechanische Spinnereien

  • 1830 Getzner Nenzing
  • 1832 Graßmayr Frastanz
  • 1834 Escher-Kennedy-Douglass Thüringen
  • 1834 Ganahl Frastanz
  • 1836 Getzner Bürs
  • 1836 Ganahl,Wohlwend Frastanz

Großfärbereien

  • 1819 Getzner Frastanz
  • 1831 Müller Bludesch-Gais
  • 1836 Elmer Satteins

Kulturgutsammlung

In der Walgauer Kulturgutsammlung finden Sie viele Beiträge zu den Industrieschauplätzen im Walgau von Barbara Motter. Auch eine Suche zum Stichwort "Industrie" in der Kulturgutsammlung lohnt sich!

"Fabrikler" in der Textilindustrie

In den 1840er-Jahren (den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts) waren etwa 20% der Wohnbevölkerung des ganzen Walgaus in der Textilindustrie beschäftigt, in Thüringen waren es gar 70%. Die in der Textilindustrie Beschäftigten waren  hauptsächlich Kinder, Jugendliche und Frauen. Vorarlbergs Männer zogen dagegen Arbeit im Ausland oder gar die Auswanderung vor (Lit.: Jussel A. Weitensfelder. Welte C. Schneider).

Bevölkerungsbewegungen im 19. Jahrhundert

Zwischen 1837 und 1869 nahm die Bevölkerung im Walgau trotz Industrialisierung nur von 4.500 auf 4.897 Personen zu. Die Ursachen dafür waren Kriege und Wirtschaftskrisen nach 1848, die der Textilindustrie stark zusetzten. 

Die Stagnation traf im  Walgau jedoch nicht  bei allen Gemeinden im selben Umfang zu: Bürs, Ludesch, Nüziders und Thüringen der BH-Bludenz verzeichneten gar Zuwächse. 

Im Gebiet der BH-Feldkirch nahm dagegen die Bevölkerung des Walgaus - mit Ausnahme von Frastanz - ab. Hier war es die Industrie, die sich positiv auswirkte, in den ländlichen Gemeinden der nördlichen Talseite führte der Niedergang der Landwirtschaft jedoch zur Abwanderung und Entsiedlung.

Auch zwischen 1869 und 1910 war das Bevölkerungswachstum mit 23% bescheiden, wenn man etwa mit Feldkirch (91%) und Dornbirn (83%) vergleicht. Die Wirtschaft im Walgau stagnierte. Frastanz mit + 42% und Bürs gar mit + 76% waren Ausnahmen. Ursachen waren die Abwanderung von Kapital nach Bludenz (Getzner) und der Mangel an Energie. Elektrizitätswerke entstanden in Nenzing 1897 und in Frastanz 1910.

Die Wohnbevölkerung 1869 (1910)

GemeindeEinwohner 1869 (1910)Einwohner 1869 (1910)Einwohner 1869 (1910)
Göfis 972 (1.042) Satteins 890 (1.080) 
Röns 127 (150) Schlins 523 (695) 
Schnifis379 (379) Düns 235 (188) 
Dünserberg 122 (117)Nenzing 1.975 (2.252) 
Bludesch 470 (492)Thüringen 595 (712) 
Ludesch 708 (803) Nüziders 866 (1.093)
Bürs 753 (1.303)Frastanz 1.664 (2.364)

(Lit.: Feurstein. Getzner. Klein. Welte. Werkowitsch)

Die Welschtiroler

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte Vorarlberg einen neuerlichen Wirtschaftsaufschwung. Produktionssteigerungen in der Textilindustrie und der Ausbau der Infrastruktur führten zu Arbeitskräftemangel. Billige Arbeitskräfte wurden aus dem Trentino, Teil der Habsburgermonarchie, angeworben. Sie kamen als Einzelpersonen und mit Familien ab 1870/71 vor allem nach Bürs. Ein Teil waren Saison-Wanderarbeiter mit hoher Migration, andere ließen sich ständig nieder. 

Die Männer arbeiteten hauptsächlich im Bahn- und Straßenbau, bei der Wildbach- und Flussverbauung.  Ledige junge Frauen (16-22 Jahre alt) arbeiteten in den Textilbetrieben von Bürs, Thüringen, Nenzing und Frastanz. Im Walgau (außer Bludenz) lag im Jahr 1910 ihr Anteil, gemessen an sämtlichen Welschtirolern, bei ca. 16%. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Vorarlbergs betrug 1910 ca. 6%.

Der Anteil der Welschtiroler an der Gemeindebevölkerung betrug im Jahr 1900 in Bürs 32,6%, in Thüringen 25,6%, in Frastanz 9,5% und in Nenzing 8,8%.

In manchen Gemeinden entstand mit der Zuwanderung der Welschtiroler ein bislang unbekanntes und "kulturfremdes“ Arbeiterproletariat. Als "Arbeiterproletariat" waren sie besitz- und rechtlos, keine Gemeindebürger, ungebildet, unqualifiziert, sozial diskriminiert, nicht integriert und - wen wundert es - streikbereit. Auch in der Bevölkerung waren sie nicht immer gern gesehen und angenommen, selbst der Bludenzer Dichter Josef Wichner schrieb dazu 1912: „ (…) was waren sie anders, als ein der Hölle entstiegenes Teufelsgesindel!?“ Viele Lieder, die heute gern in Chören gesungen werden, zeugen noch heute von den Schwierigkeiten und der Integration der Welschtiroler, und manches Sprichwort und manche Bezeichnung (z.B. "Sündentempel" für ein - nicht mehr bestehendes - Wohnhaus bei der Getznerfabrik in Bludenz) erinnert noch daran.

Noch heute erinnern Familiennamen in Nenzing wie Bettega, Bianchini, Campestrini, Caser, Dallabrida, Deportoli, Libardi, Lorenzin, Minatti, Pecoraro, Simoni, Sperandio, Steffani, Stroppa, Tomaselli und Valentiniotti an die Zuwanderer v.a. aus dem Trentino. (Lit.: Johler. Sutterlütti. Niederstätter C )

Literatur

  • Wanner, Gerhard: Vorarlbergs Industriegeschichte. Feldkirch 1990.
  • Welte, Thomas: Wirtschaftsentwicklung. In: Marktgemeinde Frastanz (Hg.): Frastanz. Frastanz 1997.S. 252-283
  • Welte; Thomas: Königreich Ganahlien? Carl Ganahl und Frastanz. In: Quer-und Vorausdenker. Zum 200. Geburtstag von Carl Ganahl. Feldkirch 2007. S. 112-129
  • Weitensfelder, Hubert: Industrie-Provinz. Vorarlberg in der Frühindustrialisierung 1740-1870. =Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 29. Frankfurt/Main 2001
  • Leipold-Schneider, Gerda: Escher-Kennedy-Douglass-Baumwollverarbeitung in Thüringen. In: Bludenzer Geschichtsblätter 66/67, 2002. S. 21-32.
  • Mittersteiner, Reinhard: Wachstum und Krise. Vorarlberger Arbeiterbewegung 1890-1918. In: Greussing, Kurt: (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung. Beiträge zu Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 4. Bregenz 1984. S. 73-132.
  • Johler, Reinhard: 120 Jahre Trentiner in Vorarlberg. In: Bludenzer Geschichtsblätter 1990, 8/9. S. 19-43. 
  • Jussel, Guntram: Dorfbuch Bludesch. Von den Rätoromanen zur II. Republik. Geschichte und Gegenwart einer Walgaugemeinde. Bludesch 1994.
  • Niederstätter, Alois: Lebenswelten. Soziale Strukturen der Trentiner Zuwanderer am Beispiel von Nenzing. In: Burmeister, Karl, Heinz/ Rollinger, Robert (Hg.): Auswanderung aus dem Trentino- Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/8 bis 1919. Sigmaringen 1995. S. 217-244.

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